Ansichtskarte im Hochformat mit gedruckter Wiedergabe einer Schwarz-Weiß-Porträtfotografie als Vignette. Ganzfigurig in sommerlicher Wanderkleidung, barfuß und mit nacktem Oberkörper, an der linken Seite Schultertasche, über den rechten Arm gelegt ein Mantel, offenes, schulterlanges lockiges Haar. Unter dem Bild schwarzes Unterschriften-Faksimile "gustaf nagel.", rechts daneben und darunter in roter Fraktur-Kleinschrift: "arendsee i altmark / geboren 28, märz 1874 in werben a elbe" (Name und Lebensdaten in der von Nagel verwendeten und propagierten Reformrechtschreibung).
Die Bildseite ist ansonsten nahezu vollständig (mit Tinte) beschriftet, sowohl oben und unten als auch links und rechts neben dem Bild: "Montag den 14 Julie / Lieber Pappa und Mamma. Seit ihr recht gut angekommen. Wir waren gestern nachmittag bei Nagel. Und heute Vormittag Begräbnis der Herzogin. / Wir wollten die Karte schon früher fordschicken. In der Hoffnung daß zu meinem Geburtstag von Euch eine Kiste ankommt, verbleibe ich Euer Lieschen. [Unten, von anderer Hand:] Viele Grüße von uns Alle. Ist denn die Karte nicht hübsch?"
Anschriftenseite mit rotem ganzseitigen Linienvordruck "postkarte", am linken Rand "C. Eckert, Postkarten-Verlag, Magdeburg Nr 2". Frankiert mit grüner 5-Pfennig-Germania-Briefmarke, abgestempelt "BERNBURG 1 / 20.7.02. 7-8V." Links unten Stempel des Empfängerpostamtes "Bestellt vom Postamte 26 / 21 7 . 02 / 7 1/4-8 3/4V." Mit schwarzer Tinte adressiert "An Herrn Karl Wende. in Berlin S. O / Admiralstr. 94 II Treppen."
Mit dem erwähnten Besuch ("Wir waren gestern nachmittag bei Nagel.") reiht sich die Absendern ein in die große Zahl Schaulustiger, die den als Lebensreformer und Aussteiger zeitweise sehr bekannten Nagel in seinem "Tempel" am altmärkischen Arendsee sehen wollten und dort unter anderem eine der von ihm angeboteen Ansichtskarten mit seinem Bild erwarben.
Im Berliner Adressbuch für 1900 ist Adressat, der Kaufmann Carl Wende, mit der Wohnanschrift Berlin S, Admiralstraße 34 II verzeichnet. Seine Frau ist die als "Mamma" angeredete Mathilde Wende geb. Schulz (1868–1930). Karl (anfangs Carl) Wende (1863–1930) ist der Großvater mütterlicherseits des langjährigen Schriftführers der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg Hans Axthelm (1928–2001). Karl Wende ist zwar in Niesau im Kreis Dessau geboren, seine Eltern lebten aber später in Bernburg (1890 belegt), wo die Karte abgestempelt ist. Vermutlich besuchte die Absenderin also hier ihre Großeltern oder andere Verwandte ihres Vaters. Bei ihr, dem unterzeichneten "Lieschen", kann es sich nur um Luise Wende (geb. 1894) handeln, die damals erst acht Jahre alt war, was zur kindlichen Schrift und den Rechtschreibfehlern passt. Sie und ihr Mann (ab 1924), der in Berlin-Britz anässige Schlächtermeister Paul Axthelm (geb. 1888), sind die Eltern von Hans Axthelm.
Das erwähnte "Begräbnis der Herzogin" meint das der Witwe des letzten Herzogs von Anhalt-Bernburg, Friederike, geb. Prinzessin von Holstein-Sonderburg-Glücksburg (1811–1902), die ab 1863 als Witwe auf Schloss Ballenstedt lebte, am 10. Juli 1902 in Alexisbad starb und am 14.Juli 1902 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in der Fürstengruft der Bernburger Schlosskirche beigesetzt wurde.
Provenienz: Erworben 2020 (Nachlass Hans Axthelm).